Auf dem Mannschaftsfoto – im Internet findet man es mit wenigen Klicks – stehen und knien die Männer, die gleich danach sensationell den größten Wettbewerb des europäischen Fußballs gewinnen werden. Der Torhüter Antonios Nikopolidis, 33 Jahre alt. Der Abwehrspieler Traianos Dellas, 28 Jahre alt.
Der Mittelfeldspieler Theodoros Zagorakis, 33 Jahre alt. Der Stürmer Angelos Charisteas, 28 Jahre alt. Sie sind die Mittelachse der Mannschaft aus Griechenland, die damals, im Sommer 2004, gegen alle Wahrscheinlichkeit Europameister wird – und dabei einen Höchstwert erreicht, der weiter unerreicht ist.
Es ist in diesem Sport so viel passiert seit diesem Turnier in Portugal, seit der Stürmer Angelos Charisteas das EM-Endspiel mit seinem Tor entschieden hat, dass die Griechen, die für einen Sommer die Helden des Fußballs sein durften, Jahr für Jahr mehr aus dem Gedächtnis verschwinden.
„Wichtig ist, dass man leistungsfähig ist“
Und doch wird selbst in den modischsten Statistikdatenbanken des Spiels weiter an diese unmodische Mannschaft erinnert, weil sie damals eben nicht nur einen Mythos, sondern eine Marke hinterlassen hat: So alt wie sie – im Durchschnitt 28,35 Jahre – ist in der EM-Geschichte davor und danach kein anderes Siegerteam gewesen. In diesem Sommer ist unter den 24 Nationalmannschaften auch nur eine, die einen höheren Altersdurchschnitt hat: 28,58 Jahre – so alt sind die 26 Spieler aus Deutschland im Durchschnitt.
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Am Montag, an dem das zweite Gruppenspiel der Deutschen gegen Ungarn nur noch zwei Tage entfernt ist, sitzt Manuel Neuer mittags auf dem Podium des Pressesaals in Herzogenaurach und sagt: „Wichtig ist, dass man leistungsfähig ist.“ Er ist gerade gefragt worden, wie er denn die Altersstruktur seiner Mannschaft einschätzen würde. „Ich kann“, sagt er dann, „die Hand ins Feuer legen für unsere Spieler, die schon eine Drei vorne haben.“
Er meint die Torhüter Marc-André ter Stegen (32) und Oliver Baumann (34). Den Abwehrspieler Antonio Rüdiger (31). Die Mittelfeldspieler Toni Kroos (34), İlkay Gündoğan (33), Pascal Groß (33) und Emre Can. Die Stürmer Thomas Müller (34) und Niclas Füllkrug (31). Und natürlich meint er auch sich selbst.
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Mit 38 Jahren ist Neuer der älteste Spieler der Mannschaft. Und als er am Montag ganz konkret danach gefragt wird, ob er eigentlich noch so gut sein könne wie 2014, wie während der WM in Brasilien, als er das Torwartspiel mit seinen rettenden Sprints aus dem Strafraum revolutionierte, antwortet er nur ganz allgemein.
Es sei so, dass seine Mannschaft auch anders spiele als damals, als die Abwehr so hoch stand, als er den, so sagte er das, „Sweeper-Keeper“ machen musste; und deswegen sei es so, dass er sein Spiel an das der Mannschaft anpasse, dass er sich auf der richtigen Höhe bewegen und da sein wolle. Doch selbst wenn er das nicht sagen wollte, dürfte natürlich auch der neue Neuer wissen, dass er nicht mehr der alte Neuer sein kann.
Auf den ersten Blick scheint das höhere Durchschnittsalter der deutschen Nationalmannschaft daher mindestens aus athletischer Sicht ein Nachteil zu sein. Im Fachjournal „The Journal of Strength and Conditioning Research“ ist im Jahr 2019 ein Artikel (Titel: „Effects of physical match performance in professional soccer players“) erschienen, der sich mit den physischen Veränderungen von Spielern auseinandersetzt.
Auf Basis der Spielerdaten aus der spanischen La Liga (Saison 2017/18) ist dort dokumentiert worden, dass die Leistung von Spielern, die 30 Jahre oder älter sind, im Vergleich mit Spielern zwischen 16 und 29 Jahren in den folgenden Kategorien sinkt: in der Summe der Laufdistanz sowie in der Anzahl der Sprints und schnellen Sprints. In der Laufleistung sind es durchschnittlich zwei Prozent weniger, in der Sprintleistung zwischen fünf und 30 Prozent weniger. Das dürfte durchschnittlich auch für die deutschen Spieler gelten.
Aussagekräftige Daten
Auf den zweiten Blick in die Statistiken kann man mit konkretem Fokus auf die Struktur der deutschen Mannschaft auch einen möglichen Vorteil erkennen. Im Sommer 2022 sind in der „New York Times“ Daten aus der Sportabteilung des Statistikunternehmens Twenty First Group veröffentlicht worden. Sie sagten aus, dass Spieler, die 32 Jahre oder älter sind, in der Champions League Saison für Saison immer mehr Minuten sammelten. Und sie sagten sogar aus, dass diese Spieler mehr Dribblings und mehr Luftzweikämpfe gewinnen, mehr Tore schießen und im Fall der zentralen Mittelfeldspieler genauer passen würden.
In der deutschen Startelf fanden sich am Freitag vier Spieler, die 30 Jahre oder älter sind (Robert Andrich wird im September 30): Neuer, Rüdiger, Kroos und Gündoğan. Man kann in den Datenauswertungen auch ihre Stärken wiedererkennen: Luftzweikämpfe? Rüdiger. Passspiel? Kroos und Gündoğan. Das könnte mit Blick aufs DFB-Team die entscheidende Erkenntnis sein: Es hat alte Spieler auf den Positionen, auf denen man auch im modernen Fußball problemloser alt sein kann.
Am Montag sprach Manuel Neuer dann auch über etwas, das man mit Daten nicht messen kann. Er beobachte, sagte er, dass etwa Florian Wirtz und Jamal Musiala, mit 21 Jahren die jüngsten Spieler in der deutschen Startelf, auch außerhalb des Trainings immer wieder etwas mit älteren Spielern unternehmen würden. Er selbst freue sich ja, auch mal „mit den Jungen abzuhängen“, weil die Gespräche anders seien „als mit Toni Kroos oder mit Thomas Müller“.
Und das führt zu einer Erkenntnis, die schon immer galt und immer gelten wird: dass es – gerade in den Wochen eines großen Turniers – nicht nur entscheidend ist, wie ein Team zusammenspielt, sondern auch, wie es zusammenlebt.
